01.01.1999

der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

der Deutschen Physikalischen Gesellschaft

Der Neutrino-Masse auf der Spur

Frühjahrstagung der DPG: Japanische Forschungsergebnisse geben starke Hinweise für massebehaftete Neutrinos - Künftige Experimente werden endgültige Klärung bringen

Kaum ein Forschungsergebnis in aktueller Zeit hat unter den Physikern für mehr Aufregung gesorgt, als die starken Hinweise darauf, daß Neutrinos eine Masse besitzen. Grund dafür war nicht allein der ungewöhnlich hohe Aufwand des internationalen Experiments unter japanischer Federführung, bei dem ein Riesentank mit 50 Millionen Litern reinsten Wassers in der stillgelegten Kamioka-Mine bei Tokio rund 1000 Meter unter der Erde als Nachweisinstrument verwendet wurde. Was die Forscher vor allem beschäftigt ist die Tatsache, daß dieses Ergebnis im Widerspruch zum Standardmodell der Teilchenphysik steht, in welchem dem Neutrino keine Masse zugeschrieben wird. Der Sprecher der internationalen Kollaboration, Professor Yoji Totsuka, wird diese Ergebnisse auf der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Heidelberg (Mi., 17.03.99, Im Neuenheimer Feld 252, Großer Hörsaal) aus erster Hand vortragen.

So stark die Hinweise aus der Kamioka-Mine auch sein mögen, letztendlich handelt es sich dabei aber "lediglich" um einen indirekten Beweis. Die Physiker wollen aber auch den direkten Beleg für ein massebehaftetes Neutrino nicht schuldig bleiben. Sogenannten "Long-Baseline" Experimenten werden große Chancen eingeräumt, den direkten Beweis zu liefern. Achim Geiser von der Universität Dortmund stellt in Heidelberg (Fr., 19.03.99, 10.45 Uhr, Im Neuenheimer Feld 327, Hörsaal T9) den Beitrag europäischer Forscher zu dieser Fragestellung vor.

Zusammen mit den Quarks, aus denen die Atomkerne aufgebaut sind, bilden das Elektron, das Myon und das Tauon mit den ihnen jeweils zugeordneten Neutrinos die Grundbausteine jeglicher Materie. Die drei Neutrino-Sorten sind dabei für die Forscher die am härtesten zu knackenden Nüsse. Obwohl die elektrisch neutralen Neutrinos bei vielen Prozessen - beispielsweise bei der Energieerzeugung im Sonneninneren - mitmischen, sind sie nicht leicht zu fassen. Sie unterliegen bezeichnenderweise nur der "schwachen Wechselwirkung" - einer der vier fundamentalen Kräfte, die die Welt zusammenhalten. Kein Wunder also, das sich die Physiker für die "flüchtigen" Neutrinos interessieren!
Die Neugierde der Physiker wurde noch dadurch gesteigert, daß seit einigen Jahren von verschiedenen Labors auf der Welt Resultate berichtet wurden, daß weniger Elektron-Neutrinos von der Sonne auf der Erde eintreffen, als theoretisch vorhergesagt. Mit dem Super-Kamiokande-Detektor, der 1996 seine Arbeit aufgenommen hatte, wollten die Forscher dieser und anderen Unstimmigkeiten auf den Grund gehen. Damit möglichst wenige äußere Einflüsse ihre Experimente störten, verkrochen sie sich in der Kamioka-Mine einen Kilometer unter die Erde.

Trifft dort in dem 40 Meter durchmessenden und 40 Meter hohen Wassertank ein durch die kosmische Höhenstrahlung in der Erdatmo
sphäre entstandenes Myon-Neutrino auf den Kern eines Sauerstoffatoms, so entsteht ein Myon. Dieses geladene Teilchen fliegt nach dem Zusammenstoß mit Lichtgeschwindigkeit in der gleichen Richtung weiter wie "sein" Neutrino. Entlang der Flugbahn erzeugt es Lichtblitze, sogenannte Cerenkov-Strahlung. Mit über 13000 lichtempfindlichen Detektoren, die an den Innenwänden des Wassertanks angebracht sind, verfolgten die japanischen Forscher im 500 Meter entfernten Kontrollraum diese Lichtgewitter. Elektron-Neutrinos, seien sie von der Sonne oder ebenfalls in der Erdatmosphäre produziert, wechselwirken in einer Art Billiard-Stoß mit den Elektronen der Wassermoleküle im Tank. Im Gegensatz zu den wesentlich schwereren Myonen, geben die "angestoßenen" Elektronen neben der Cerenkov-Strahlung noch zusätzliche Störstrahlung ab. Mit den künstlichen Augen läßt sich daher nicht nur die Richtung der ursprünglich eingetroffenen Neutrinos ermitteln, sondern auch die Sorte.

Rund 4700 Ereignisse beobachteten die Physiker auf diese Weise in den vergangenen beiden Jahren. Sie unterschieden dabei Neutrinos, die "von oben" in den Wassertank trafen von solchen, die "von unten" kamen, also den etwa 12000 Kilometer längeren Weg durch die Erde zurückgelegt hatten. Den Vorhersagen zu Folge sollten in beiden Fällen etwa doppelt so viele myonische Neutrinos ankommen, wie elektronische. Tatsächlich wurden "von unten" wesentlich weniger myonische Neutrinos registriert als erwartet. Erklären läßt sich das Defizit der Myon-Neutrinos damit, daß einige dieser Teilchen den verlängerten Flug durch die Erde dazu genutzt haben, sich in Tau-Neutrinos umzuwandeln, die sich mit dem Super-Kamiokande nicht nachweisen lassen. Durch den Kunstgriff, zwischen den durch die Erde gegangenen und direkt eingetroffenen Neutrinos zu unterscheiden wurden äußere Ursachen für das Defizit an Myon-Neutrinos ausgeschlossen.

Die Möglichkeit solcher Umwandlungen, der sogenannten Neutrino-Oszillationen, sind keine neue Idee; schon 1957 hatten Physiker die Möglichkeit solcher Umwandlungen in Betracht gezogen. Die Oszillationen stürzen die Wissenschaftler aber in ein Dilemma. Nach dem Standardmodell der Elementarteilchen ist es nämlich nur solchen Teilchen möglich, sich in ein anderes umzuwandeln, die eine Masse tragen. Die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit am Super-Kamiokande beobachteten Oszillationen sind also "nur" ein indirekter Beweis dafür, daß Neutrinos eine Masse besitzen.

Trotz all der Euphorie über das "Ergebnis des Jahrzehnts" von Super-Kamiokande hat noch kein Forscher die Oszillationen direkt gesehen. Solche unabhängigen Untersuchungen als notwendige letzte Bestätigung stehen weiter aus. Sogenannte "Long Baseline Experimente", die in Japan, Europa oder den Vereinigten Staaten vorbereitet werden, könnten Klärung bringen. Wird beispielsweise vom europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf ein künstlich in einem Teilchenbeschleuniger erzeugtes Bündel myonischer Neutrinos zum 732 Kilometer entfernten Untergrundlabor im Gran Sasso abgeschickt, und bei der Ankunft im Detektor tauonische Neutrinos nachgewiesen, so wäre das ein direkter Beweis für Neutrino-Oszillationen.

Abgesehen von diesem Blick in die Zukunft legt das Super-Kamiokande-Ergebnis einen wichtigen Schluß nahe. Schon längere Zeit haben die Astronomen die Hoffnung gedämpft, in den Neutrions die dringend gesuchte "Dark Matter" zu finden. Ist nur wenig dieser unsichtbaren "Dunklen Materie" vorhanden, dann wird das Universum, das seit dem Urknall immer weiter auseinander strebt, dies bis ans Ende aller Zeit tun. Ab einem bestimmten Grenzwert der vorhandenen Gesamtmasse hört diese Bewegung irgendwann auf; das Universum "erstarrt". Ist noch mehr "Dunkle Materie" vorhanden, kehrt sich die Ausdehnung eines fernen Tages um, das Universum stürzt in sich zusammen. Nach ersten Schätzungen wie "schwer" Neutrinos maximal sein könnten war schon fraglich, ob die Gesamtmasse aller Neutrinos ausreichen kann, das Universum wieder in sich zusammenzuziehen. Auch aus den Resultaten bei Super-Kamiokande haben die Forscher anhand theoretischer Modelle Neutrino-Massen abgeschätzt. Treffen diese Modellvorstellungen zu, so fielen die Neutrinos als wesentlicher Beitrag zur Dunklen Materie weg. Denn dann besäße selbst das Tau-Neutrino, das in Verdacht steht das Schwerste der Neutrinos zu sein, zu wenig Masse, als daß es bei den Kosmologen ins Gewicht fallen könnte, egal wie hoch der Anteil der Neutrinos an der dunklen Materie ist.

Weitere Informationen:

Dr. Achim Geiser
Lehrstuhl für Experimentelle Physik IV, Universität Dortmund
Tel.: 0231-7553542
Fax: 0231-7553569
E-Mail:

Prof. Dr. Klaus Wandelt
Institut für Physikalische Chemie der Universität Bonn
Tel.: 0228-732253
Fax: 0228-732515
E-Mail: