Entschließung zur bemannten Raumfahrt in der Kontroverse
aus den Physikalischen Blättern 47 (1991) 4, pp 328f Zu den zahlreichen Reaktionen auf die Entschließung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft zur bemannten Raumfahrt (vgl., Phys. Blätter Januar 1991, S. 56-58) gehört auch ein Schreiben von Prof. Reimar Lüst, dem ehemaligen Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur ESA, an DPG-Präsident Theo Mayer-Kuckuck. Im folgenden ist dieser Brief zusammen mit der Antwort - beides geringfügig gekürzt - wiedergegeben.
Mit großer Sorge sehe ich, daß Berufsvereinigungen Stellungnahmen abgeben, für die sie nur begrenzt legitimiert sind, und für die sie auch nicht die gesamte Fachkompetenz haben.
In Ihrem Schreiben apostrophieren Sie den Vorstandsrat als "Parlament der Deutschen Physikalischen Gesellschaft", der die Entschließung verabschiedet hat. Als Mitglied der DPG bin ich mir nicht bewußt, daß der Vorstandsrat von den Mitgliedern unter diesen Aspekten gewählt worden ist. (Welcher Teil des Vorstandsrats ist überhaupt von allen Mitgliedern der DPG gewählt worden?) Sie erwecken dadurch in der Öffentlichkeit den Eindruck, als ob die Arbeit im Vorstandsrat allen offensteht, d. h. daß dort zumindest unter der Beobachtung aller Mitglieder der Gesellschaft diskutiert würde, wie man es von einem Parlament notwendigerweise erwartet. Mindestens hätten doch wohl alle Mitglieder der DPG von der bevorstehenden Entschließung und der Verabschiedung am 17. November 1990 in Kenntnis gesetzt werden müssen.
Insofern ist diese Erklärung für mich nichts anderes, als daß sich gewisse Interessenten zusammengetan haben, um mögliche finanzielle Nachteile abzuwenden, die sie eventuell für ihr eigenes Wissenschaftsgebiet erwarten. Dagegen ist gar nichts einzuwenden, wenn man dies zu erkennen gibt und nicht versucht, den Eindruck zu erwecken, man spräche im Namen aller Wissenschaftler oder der Wissenschaft. Damit grenzt man diejenigen, die anderer Meinung sind, aus. Die Politiker stellt man dazu noch als naiv oder dumm hin.
Für mich wäre es ein interessantes Gedankenspiel, wenn man überlegen würde, wie die Physiker reagieren würden, wenn z. B. die Deutsche Biologische Gesellschaft oder die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt eine Erklärung zur Entwicklung der Großbeschleuniger in Genf oder Hamburg abgeben würden, denn auch in diesen Gesellschaften ließen sich dafür Interessenten finden, die um die Finanzierung ihrer Bereiche fürchten. Auf dem Gebiet der Hochenergiephysik sind ja die Kosten für CERN und DESY durchaus mit der Raumfahrt vergleichbar.
Ich meine, daß es in der Bundesrepublik Deutschland - da wir keine allgemeine Akademie haben - nur eine einzige Organisation gibt, der ich zutraue, das für die Wissenschaft zu leisten. Das ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Sie ist auch dazu legitimiert. Sie hat bewährte Verfahren von Gutachtern und Kommissionen.
Damit bin ich beim zweiten Punkt meiner Bedenken. Mir ist nicht bewußt und bekannt, daß man wirkliche Experten der ESA-Programme wenigstens angehört hätte. Zufällig waren zwei Deutsche hier in maßgebenden Positionen. Der eine, Herr Feustel-Büchel, ist der Direktor für ARIANE und HERMES; der zweite war der bisherige Generaldirektor der ESA, der dazu auch noch Mitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ist. Wenn man sich in der Diskussion schon nicht mit den Tatsachen hatte befreunden wollen, so wäre es meines Erachtens doch das Mindeste gewesen, wenn man diesen beiden den Entwurf einmal zugeleitet hätte, um mögliche fehlerhafte Aussagen über die ESA zu vermeiden. Man hätte ja auch einmal an ein Minderheitenvotum denken können.
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Zur Entschließung selbst: Man kann sie einmal als ausgewogen bezeichnen, denn sie tut niemandem weh. Herr Riesenhuber und das ESA-Management werden dankbar sein, daß ihre wiederholten Appelle an die europäischen Industrie nachdrücklich unterstützt werden: "Entscheidend für die Durchführung der vorgesehenen Projekte ist es, daß sie innerhalb des vorgesehenen Kostenrahmens durchgeführt werden können."
Das wäre die wohlwollende Einschätzung der Entschließung. Man könnte sie aber auch schlicht als ein Feigenblatt des Vorstandes der DPG bezeichnen, der dem Druck der Ideologen oder Kreuzfahrer gegen bemannte Raumfahrt nicht hat standhalten können.
Nun zu einigen Punkten der Entschließung:
a) Der . . . Satz . . . "Daß derzeit von der Raumfahrttechnik überragende technologische Antriebe ausgehen, ist nicht zu erkennen", gilt sicher generell für die Raumfahrttechnik, aber eben nicht für HERMES und für seine möglichen Auswirkungen. Experten hätten Ihnen das leicht erläutern können. Dies ist auch schon daran erkennbar, daß gerade hier in der Bundesrepublik von der Deutschen Forschungsgemeinschaft vier Sonderforschungsbereiche ins Leben gerufen worden sind, deren Arbeiten für die Entwicklung von HERMES und von SÄNGER relevant sind. Nach wie vor stehe ich seit dreißig Jahren auf dem Standpunkt, daß sich jedes Raumfahrtprojekt nur aus der eigenen Aufgabenstellung rechtfertigen muß und nicht durch irgendeinen Spinoff. Nur HERMES und SÄNGER werden wegen der notwendigen Entwicklungen im Überschallbereich und im Bereich der Werkstoffe ganz sicher zusätzliche technische Anstöße geben.
b) Bei der Schilderung des ESA-Programms . . . wird überhaupt nicht die ESA-Strategie zur bemannten Raumfahrt erwähnt, die sich ja grundsätzlich von der der NASA unterscheidet. Ebenso wird nicht gesagt, daß der Anteil für den bemannten Teil etwa 25-30 % der Gesamtkosten des ESA-Programms beträgt.
c) Ich war .und bin gewiß kein Enthusiast der bemannten Raumfahrt. Das Max-Planck-Institut, aus dem ich hervorgegangen bin, hat sich stets nur mit Forschungsvorhaben beschäftigt'; die unbemannt durchgeführt werden konnten. Aber das darf einem doch nicht den Blick verstellen, vorurteilslos zu prüfen, ob der Einsatz von Menschen im Weltraum Sinn macht oder nicht. Die Aussage, daß die bemannte Raumfahrt keine wissenschaftliche, sondern eine politische Entscheidung sei, ist unhaltbar. Damit diskreditiert sich die DPG. Ich als Mitglied bin nicht bereit, das so hinzunehmen.
d) Man kann sehr wohl darüber streiten, ob man den Aufwand für die bemannte Raumfahrt für vertretbar hält. Selbstverständlich muß man dabei andere Meinungen gelten lassen. . . . Bei der Entschließung der DPG und vor allem bei den öffentlichen Aussagen von Herrn Keppler wird man leider den Verdacht nicht los, daß hier nur für den eigenen Forschungsbereich gekämpft wird.
e) Schließlich, wenn man von der Ausgewogenheit und Verteilung der Mittel redet, so wäre es meines Erachtens doch wohl recht und billig gewesen, hervorzuheben, daß die Mittel für die extraterrestrische Forschung - hierfür hat ja die DPG eine gewisse Kompetenz - seit 1985 um jeweils 5 % pro Jahr gesteigert wurden, und daß diese Steigerung auch bis zum Jahr 1994 fortgesetzt werden wird. Dieses war nur auf dem Hintergrund des Gesamtprogramms der ESA zu erreichen.
Alles in allem habe ich bei der Entschließung der DPG ein schlechtes Gefühl. Sie wird die Glaubwürdigkeit der Wissenschaftler, zumindestens der Physiker, vor allem bei den Politikern nicht steigern. Wenn man damit in die Medien kommen wollte, so ist dies kurzfristig wohl gelungen. Dafür bin ich aber nicht Mitglied in der DPG geworden.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Reimar Lüst
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Sie bezweifeln die Legitimation der Physikalischen Gesellschaft zu einer solchen Stellungnahme. Den Vorwurf. über ein fremdes Gebiet geurteilt zu haben, kann ich nicht akzeptieren. Im Vorspann zu unserer Entschließung wird ganz klar gesagt, daß hier die bemannte Raumfahrt unter dem Gesichtspunkt der physikalischen Forschung bewertet wird. Die erste Frage in diesem Zusammenhang mußte lauten: Worin besteht der bei bemannten Missionen .erhoffte wissenschaftliche Erkenntnisgewinn, und wie vergleicht er sich mit dem Erkenntnisgewinn aus unbemannten Experimenten? Wir haben versucht, hierzu etwas zu sagen.
Die Entschließung einer wissenschaftlichen Gesellschaft kann natürlich nicht unter Mitwirkung aller Mitglieder zustande kommen. Das wäre völlig unpraktikabel und würde bedeuten, daß sich die Gesellschaft überhaupt nicht an der Diskussion forschungspolitischer Fragen beteiligen kann. Zur Zeit haben wir immerhin 19 000 Mitglieder. Praktizieren läßt sich nur das parlamentarische Verfahren über den Vorstandsrat. Die Hälfte seiner Mitglieder wird von allen DPG-Mitgliedern in direkter Wahl bestimmt, die andere Hälfte wird von den Mitgliederversammlungen der Fachverbände nach deren Geschäftsordnung gewählt. Als Aufgabe des Vorstandsrates ist in der Satzung unter anderem festgelegt: "Beschlüsse über Empfehlungen und Stellungnahmen zu Fragen, die die Gemeinschaft der Physiker in fachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht betreffen." Aufgrund dieses Mandats hat der Vorstandsrat beschlossen, eine Empfehlung zur bemannten Raumfahrt zu erarbeiten, und er hat dann, nach Jahresfrist, diese Empfehlung auch verabschiedet. Anders funktionieren die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie auch im großen nicht.
Sicher haben Sie Verständnis dafür, daß ich die mehrfach geäußerte Unterstellung, die Stellungnahme sei lediglich auf Interessenegoismus zurückzuführen, und der Vorstand der DPG hätte .,dem Druck der Ideologen oder Kreuzfahrer gegen bemannte Raumfahrt nicht standhalten können", im Namen unseres Vorstandes zurückweise. Selbstverständlich stand unter anderem die Sorge um eine ausgeglichene Forschungsfinanzierung in der Bundesrepublik im Hintergrund, da ja die Mittel aus dem Wissenschaftshaushalt aufgebracht werden. Wie die Aufteilung der Mittel im Bundeshaushalt erfolgt, ist eine Entscheidung von Regierung und Parlament, die von allen Wissenschaftlern akzeptiert werden muß. Aber der Wunsch nach Ausgewogenheit kann nicht sogleich als Interessenegoismus interpretiert werden.
Sie mahnen an, wir hätten Experten hören müssen, insbesondere die der ESA. Unsere Stellungnahme sollte aber zunächst der Klärung der nationalen Position dienen, die dann in das Geflecht der internationalen Vereinbarungen eingebracht werden muß. Wir haben deshalb bei dem eintägigen Kolloquium. das wir im letzten Juni zu diesen Fragen abgehalten haben, auf die Teilnahme von ESA-Experten verzichtet. Immerhin waren neben Fachwissenschaftlern, die Weltraumexperimente durchführen. der Generaldirektor der DARA eingeladen sowie der Vorstandsvorsitzende der DLR und zwei deutsche Astronauten von den früheren Missionen. Das war, glaube ich, eine hinreichend gute Gelegenheit, sich ein Bild zu machen.
Die Entscheidung eines Landes, sich an so großen internationalen Projekten zu beteiligen, wird letzten Endes von der Regierung getroffen. und es ist deshalb eine politische Entscheidung. Ich bin sicher, daß auch die Politiker, mit denen ich gesprochen habe, dies so sehen. Die Frage ist nur, worauf sich diese Entscheidung gründet. Die Aussage unserer Entschließung ist, daß die Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen von Bedeutung sowie die Aussichten auf eine gewinnbringende kommerzielle Nutzung bemannter Stationen ein wenig tragfähiges Fundament für die großen Programme der bemannten Raumfahrt bilden. Es mag viele andere Gründe für die bemannte Raumfahrt geben, aber ich glaube, man müßte sie deutlicher benennen. Über Einzelnes läßt sich natürlich trefflich streiten. Zum Beispiel: Wie hoch sind die technischen Anstöße auf dem Gebiet der Überschalltechnik und der Werkstoffentwicklung einzuschätzen? Wie vergleichen sie sich mit der Stimulation auf dem Gebiet der Robotik, die von unbemannten Projekten ausgeht'? Die Liste solcher Fragen kann man lange fortsetzen. Daß sie nicht einfach zu beantworten sind, zeigt die intensive Diskussion, die auch in den Vereinigten Staaten stattfindet. Die Physikalische Gesellschaft befindet sich mit ihrer Stellungnahme mittlerweile ja in guter Gesellschaft. . . . (folgt Hinweis auf die unten wiedergegebene Stellungnahme der APS; Anm. d. Red.).
Vielleicht sollte ich meinen Standpunkt noch einmal zusammenfassen. Die Mahnung der Physikalischen Gesellschaft, Ziele und Umfang der bemannten Programme zu überdenken, halte ich für legitim. Auch die öffentliche Aufmerksamkeit, die die Stellungnahme erregt
hat, bedauerte ich nicht. Sie hat auf diese Weise die Diskussion über die Programme und deren Begründung deutlich stimuliert, und ich habe den Eindruck, daß sich jetzt schon manches anders anhört als früher. . . . In all den Diskussionen, die in der letzten Zeit darüber stattgefunden haben, habe ich eigentlich kein einziges Sachargument gehört, das eine unserer Aussagen ernstlich erschüttert hätte. Schließlich war es ja auch nicht unser Ziel, die Forschung im Weltraum zu behindern, sondern im Gegenteil darauf hinzuwirken, daß ein möglichst hoher wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn erzielt wird.
Ich verbleibe mit den besten Grüßen
Ihr T. Mayer-Kuckuk