Elsa Neumann
"Sie war die erste Dame, der die Universität Berlin das Doctor-Diplom verlieh und die durch ihre Ausdauer in der Beseitigung der zahlreichen Schwierigkeiten und Bedenken, die gerade in Berlin der Zulassung von Frauen zum Studium entgegengestellt wurden, sich um die geistige Frauenbewegung in Deutschland ein großes Verdienst erworben hat." (Berliner „Lokal-Anzeiger“ am 24.07.1902 über Elsa Neumann)
Elsa Neumann (1872-1902) schloss 1899 als erste Frau in Deutschland ein Physikstudium an der Berliner Friedrichs-Wilhelm-Universität ab. Ihre Dissertation „Über die Polarisationscapacität umkehrbarer Elektroden“ wurde von den Professoren Emil Warburg (1846-1931) und Max Planck (1858-1947) begutachtet, die für Neumann auch die Aufnahme in die DPG beantragten. Neumann wurde 1899 das erste weibliche Mitglied der DPG. 1900 gründete sie den „Verein zur Gewährung zinsfreier Darlehen an studierende Frauen“, in dem sie später erste Vorsitzende und danach Ehrenmitglied wurde. Bereits zu Lebzeiten und auch nach ihrem frühen Unfalltod 1902 inspiriert Neumann: Der Elsa-Neumann-Preis wurden zwischen 1906 und 1918 vergeben und das Elsa-Neumann-Stipendium zur Promotionsförderung existiert seit 2009.
Als Frauen in Preußen (immer) noch nicht zum regulären Studium an den Universitäten zugelassen waren, gab es an der Philosophischen Fakultät der Berliner Friedrichs-Wilhelm-Universität von 1898/99 bis Juli 1908 insgesamt 22 Promotionen von Frauen mit Sonder- bzw. Ausnahmegenehmigung, 17 in geisteswissenschaftlichen Fächern und fünf in den Naturwissenschaften. Erst mit Beginn des Wintersemesters 1908/09 durften Frauen in Preußen regulär studieren. Die erste Ausnahmegenehmigung erfolgte 1898 für die Berliner Physikstudentin Elsa Neumann (23.8.1872 - 23.7.1902). Das Ereignis war so herausragend, dass alle Berliner Tageszeitungen darüber berichteten, Elsa Neumann wurde ein Medienstar, würden wir heute sagen.
Wer war diese junge Frau und warum studierte sie Physik? Was konnte sie 1899 als Frl. Dr. beruflich machen? Und hatte ihre „Erfolgsgeschichte“ einen Einfluss auf junge Studentinnen?
Elsa Neumann wurde in Berlin in eine Bankiersfamilie geboren und hatte sechs Geschwister, vier Brüder und zwei Schwestern. Ihre Dissertation widmete sie ihrer Schwester Alice Neumann (1866-1943). Da sie in einer vermögenden Familie aufwuchs, konnte ihr Bildungswunsch unterstützt und finanziert werden. Sie besuchte eine Mädchenschule in Berlin und bestand 1890 die staatliche Lehrerinnenprüfung an der Augustaschule in Berlin, deren Prüfungen denen an einem Realgymnasium entsprachen. Sie eignete sich das naturwissenschaftliche Wissen, das an Mädchenschulen nicht unterrichtet wurde, durch Privatunterricht bei Gymnasiallehrern an und erwarb so die notwendigen Kenntnisse, um ein Studium der Naturwissenschaften beginnen zu können. Weil Frauen zum Studium aber nicht zugelassen waren, benötigte sie eine Ausnahmegenehmigung des zuständigen (Preußischen) Kultusministeriums. Formal war zu beantragen, dass sie ohne Abitur (das es für Mädchen noch nicht gab) zum Studium zugelassen werde. Nachdem sie diese Hürde erfolgreich meisterte, benötigte sie außerdem die Genehmigung der jeweiligen Professoren, bei denen sie Vorlesungen hören wollte. Ab 1894 studierte sie neun Semester an den Universitäten in Göttingen und Berlin. In Berlin unterstützten sie besonders der Mathematikprofessor Immanuel Lazarus Fuchs (1833-1902) und die Professoren Emil Warburg (1846-1931) und Max Planck (1858-1947), letztere waren Gutachter ihrer Dissertation „Über die Polarisationscapacität umkehrbarer Elektroden“, die in der Zeitschrift „Annalen der Physik“ (Bd. 62) erschien. Beide beantragten schon vor Beendigung des Promotionsverfahrens ihre Mitgliedschaft in der Physikalischen Gesellschaft - sie wurde die erste Physikerin in der Gesellschaft.
Elsa Neumann bestand die Promotionsprüfung am 15. Dezember 1898, schon darüber berichteten die Berliner Tageszeitungen, und am 18. Februar 1899 war der feierliche Abschluss des Verfahrens mit der Überreichung der Urkunde. Auf einem zeitgenössischen Stich ist zu sehen, wie der Dekan der Philosophischen Fakultät - der Mathematiker Hermann Amandus Schwarz (1843-1921) - einer jungen Frau in hochgeschlossenem Kleid die Urkunde überreicht und man sieht, dass der Saal angefüllt ist mit vielen (männlichen) Zuschauern. Die Reaktionen in der Presse waren eindeutig, sie lobten die Fakultät, die Universität und das Kultusministerium für die Entscheidung, die junge Frau promovieren zu lassen und sie hofften, dass es bald zu einer Öffnung der Universitäten für studierwillige Frauen komme, was erst neun Jahre später geschah. So mutig die Fakultät gewesen war, Elsa Neumann zu unterstützen, so ambivalent war die Rede des Dekans, aus der die „Berliner Morgenpost“ am 19.2.1899 (einem Sonntag) zitierte:
„Der Dekan unterließ es jedoch nicht, als die würdigste Stellung der Frau nach wie vor die der Hohepriesterin des Hauses, der Gattin und Mutter zu bezeichnen. Mit einer solchen Stellung ist aber die Theilnahme an der wissenschaftlichen Arbeit der Männer durchaus nicht unvereinbar.“
Und:
„Noch einmal wies der Dekan darauf hin, wie glücklich auch die wissenschaftlich gebildeten Frauen wären, die in der Lage sind, beim Verlust ihres Ernährers an dessen Stelle zu treten.“
Nach Abschluss ihrer Promotion begann Elsa Neumann ein Leben als Privatgelehrte, das ihr Dank der familiären Verhältnisse möglich war. An einer Universität hätte sie als Frau (noch) keine Anstellung bekommen, als Lehrerin an einer staatlichen Schule wäre sie als Jüdin nicht eingestellt worden, ihr blieb nur das Forschen in einem privaten Labor. Sie arbeitete im 1891 gegründeten „Wissenschaftlich-chemischen Laboratorium Berlin N“ in der Chausseestraße 2e, das von Arthur Rosenheim (1865-1942) und Richard Joseph Meyer (1865-1939) geleitet wurde. Beide gehörten als nichtbeamtete außerordentliche Professoren der Berliner Universität an, in ihrem Laboratorium standen gegen Entgelt Arbeitsplätze auch für Studenten und Doktoranden zur Verfügung. Hier hatte Elsa Neumann einen eigenen Arbeitsraum und untersuchte Probleme der Elektrochemie. Sie wurde Mitglied der Deutschen Chemischen Gesellschaft und beteiligte sich an Forschungen im Rahmen des Deutschen Luftschiffer-Verbandes. Ende Juni 1902 nahm sie an einer Auffahrt mit einem Luftschiff teil, u. a. mit Graf Ferdinand von Zeppelin (1838-1917) und Professor Adolf Miethe (1862-1927) von der TH Charlottenburg.
Obwohl oder weil sie aus vermögendem Elternhaus kam, war ihr klar, dass die Durchsetzung des Frauenstudiums wirtschaftlich unterstützt werden musste. Deshalb gründete sie am 26. April 1900 mit Gleichgesinnten den „Verein zur Gewährung zinsloser Darlehen an studierende Frauen“. Sie wurde die erste Vorsitzende, später Ehrenmitglied, nach ihr übernahm die Bakteriologin Dr. Lydia Rabinowitsch-Kempner (1871-1935) den Vorsitz. Unüblich war, dass zu den Gründungsmitgliedern sowohl Frauen als auch Männer gehörten, auch unter den „lebenslänglichen Mitgliedern“, d. h. jenen, die eine besonders hohe Anfangssumme gespendet hatten (vgl. Vogt (1999), S. 25-30).
Am Mittwoch, dem 23. Juli 1902, geschah das Unglück, beim Experimentieren mit Blausäure im Labor in der Chausseestraße 2e starb Elsa Neumann, ob aus Unachtsamkeit oder wegen eines fehlerhaften Abzugs blieb unklar. Der italienische Chemiker, Widerstandskämpfer und Überlebende des Todeslagers Auschwitz Primo Levi (1919-1987) hatte geschrieben, dass ein Chemiker eine gute Nase haben müsse, wenn er alt werden wolle (Das periodische System. Erzählungen). Der triumphale Abschluss des Physikstudiums war erst drei Jahre her, Elsa Neumann war nicht vergessen, und alle Tageszeitungen berichteten von dem Unglück, von der Trauerfeier im Elternhaus mit Rabbiner Dr. Wilhelm Klemperer (1839-1912) sowie der Urnenbestattung in Hamburg.
Nach dem Tod stiftete ihre Mutter den „Elsa-Neumann-Preis“ für die beste mathematische oder physikalische Arbeit eines Jahres, der ausdrücklich unabhängig vom Geschlecht oder der Religion vergeben werden sollte. Gesellschaftliche Umstände waren dafür verantwortlich, dass der zwischen 1906 und 1918 jährlich vergebene Preis weder jemals einer Frau zugesprochen wurde noch die Inflation in Deutschland überlebte. Den „Elsa-Neumann-Preis“ bekamen zwischen 1906 und 1918 nur 12 Männer, darunter 1915 der spätere Physik-Nobelpreisträger (1954) Walther Bothe (1891-1957).
Der Verlust der Geldmenge durch Kriegsanleihen und Inflation beeinträchtigte auch den „Verein zur Gewährung zinsloser Darlehen an studierende Frauen“, der im März 1930 faktisch neu gegründet werden musste. Leider gibt es im Archiv des Vereins (im Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin) keine Unterlagen über die vergebenen Darlehen, und so wissen wir nicht, wieviele Studentinnen Dank Elsa Neumann und des Vereins ein Studium absolvieren konnten und ob unter ihnen Physikstudentinnen gewesen sind.
Dass sowohl die Chemische als auch die Physikalische Gesellschaft nach dem Tod kurze Nekrologe auf Elsa Neumann publizierten, bezeugt die wissenschaftliche Akzeptanz und Anerkennung unter ihren Fachkollegen - 1902 etwas Außergewöhnliches für eine junge Wissenschaftlerin. Politische Zustände in diesem Land, seiner Hauptstadt und seiner Universität waren dafür verantwortlich, dass ab 1933 niemand mehr an Elsa Neumann erinnern wollte, dass ihre 1933 noch lebenden Verwandten sich der Ermordung nur durch Flucht oder Selbstmord entziehen konnten.
Nach ihrem Tod hatte der Berliner „Lokal-Anzeiger“ am 24.7.1902 betont:
„Sie war die erste Dame, der die Universität Berlin das Doctor-Diplom verlieh und die durch ihre Ausdauer in der Beseitigung der zahlreichen Schwierigkeiten und Bedenken, die gerade in Berlin der Zulassung von Frauen zum Studium entgegengestellt wurden, sich um die geistige Frauenbewegung in Deutschland ein großes Verdienst erworben hat.“
An die Tradition des Elsa-Neumann-Preises knüpft der Berliner Senat an, als er 2009 beschloss, das Programm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses nach Elsa Neumann zu benennen: das Elsa-Neumann-Stipendium zur Promotionsförderung, das seitdem jährlich zweimal ausgeschrieben wird.
Autorin: Annette Vogt (Berlin)
Bild: Stich nach Zeichnung von Ewald Thiel, 1899
Weiterführende Literatur:
Vogt, Annette. Elsa Neumann - Berlins erstes Fräulein Doktor. Berlin: Verlag für Wissenschafts- und Regionalgeschichte Dr. Michael Engel, 1999.
Vogt, Annette. Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, Pallas & Athene Bd. 17, 2007.
Vogt, Annette. Elsa Neumann - erste Promovendin an der Berliner Uni. In: Luise Berlin, 1997, S. 27-33. (letzter Zugriff 19.3.2020)