Oswald Pietzsch

"Die Fragen der Energieerzeugung und –umwandlung weckten meine Neugier auf die Physik. Konnte man – konnte ich! – das verstehen? Neunzehn Jahre nach Abschluss der Schule, im Alter von 41 Jahren, stürzte ich mich in ein neues Abenteuer – das Studium der Physik an der Uni Hamburg."

Oswald Pietzsch (Universität Hamburg, 71 Jahre, DPG-Mitglied seit 1999) arbeitete nach dem Abitur 19 Jahre im Maschinenbau bei Blohm & Voss, einem Rüstungsbetrieb in Hamburg. In den 1980er Jahren entwickelten Kollegen Vorschläge für alternative Produkte zur Rüstungsproduktion: Windkraft, Wasserstofftechnik, nachhaltige maritime Antriebe. Das weckte sein Interesse an der Physik. Im Alter von 41 Jahren begann Pietzsch das Studium an der Universität Hamburg, die Promotion erfolgte mit 51 Jahren.

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Was bewegt Sie neben Physik und Arbeit?

Die Zeit meines Schulabschlusses 1970 war geprägt durch den Vietnam-Krieg und die weltweite Jugendrevolte. Große gesellschaftliche Veränderungen bahnten sich an, ich sah mich als Teil davon. Physik lag mir fern. Überhaupt: alles war interessanter als Schule. War da gar kein Bezug zwischen Schule und Naturwissenschaft? Doch! In der Schulbibliothek fand ich das kleine Aufsatzfragment "Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" von Friedrich Engels. Der materialistische Denkansatz, inspiriert auch durch Darwins Lehre, sprach mich sehr an und prägt bis heute meine philosophischen Grundüberzeugungen (aktuelle Lektüre: Sean Carroll: The Big Picture: On the Origins of Life, Meaning, and the Universe Itself).

Der Weg zur Physik ergab sich erst über einen langen Umweg. Nach einem abgebrochenen Semester Psychologie schloss ich mich einer der damaligen linken Gruppen an, ging als Ungelernter zur Schiffswerft Blohm + Voss und verdiente mein Geld im Maschinenbau an der Drehbank. Auf dem linken Flügel der IG Metall agitierte ich unter den Kollegen gegen den Bau von Fregatten und Leopard-Panzern. Mit wenig Erfolg. Was soll man denn sonst produzieren? Ein gewerkschaftlicher Arbeitskreis aber nahm die Frage ernst und entwickelte in den 1980ern Alternativen zur Rüstungsproduktion. Unsere Produktvorschläge, damals als utopisch angegriffen, sind heutzutage aktuelle Energiepolitik: Windkraftanlagen, Blockheizkraftwerke, Wasserstoffantriebe. Nicht, dass unsere damaligen Vorschläge umgesetzt worden wären – aber die Kollegen konnten sich doch eine andere Produktion vorstellen.

Die Fragen der Energieerzeugung und –umwandlung weckten meine Neugier auf die Physik. Konnte man – konnte ich! – das verstehen? Neunzehn Jahre nach Abschluss der Schule, im Alter von 41 Jahren, stürzte ich mich in ein neues Abenteuer – das Studium der Physik an der Uni Hamburg. Als ich 1996 nach einem Thema für die Diplomarbeit suchte, bewarb ich mich beim Hamburger Stromanbieter, der ein Demonstrationskraftwerk auf Basis von Brennstoffzellen plante. Aber ein Termin für den Baubeginn war nicht in Sicht. Tatsächlich wurde die Anlage nie gebaut, die Zeit war (ist?) noch nicht reif.

Für mich persönlich war das schließlich ein glücklicher Umstand. In der Gruppe von Prof. R. Wiesendanger bekam ich als Diplomaufgabe, ein Rastertunnelmikroskop zu bauen für Untersuchungen an magnetischen Proben. Meine Erfahrungen aus dem Maschinenbau kamen mir dabei sehr zugute. Mit diesem Instrument gelang schließlich der Durchbruch zur spinpolarisierten Variante der Rastertunnelmikroskopie, gefolgt von zahlreichen Publikationen in angesehenen Journalen. Mir fiel das Privileg zu, in meiner Dissertation als erster die neue Methode in geschlossener Form beschreiben zu dürfen.

Ich bin mittlerweile im Ruhestand. In meiner täglichen Nachrichtenlektüre beschäftigt mich neben dem bedrohlichen Klimawandel immer stärker die geopolitische Entwicklung. Kann die Menschheit den Niedergang der US-Hegemonie ohne nukleare Katastrophe überstehen?

In meiner Freizeit spiele ich Petanque mit sportlichem Ehrgeiz. Auf meinen E-Bike-Touren, allein oder gemeinsam mit meiner Frau, ist meine Kamera immer dabei. Eine Auswahl meiner Fotos präsentiere ich auf einer eigenen Internet-Seite.


Welchen Bezug haben Sie zur DPG?

Die DPG ist für mich a) die DPG-Frühjahrstagung, das "große Familientreffen"; b) das Physik Journal mit seiner immer interessanten Mixtur zu aktuellsten physikalischen Forschungen und ausgewählten Themen aus der Physikgeschichte.

 

Warum sollten sich PhysikerInnen verstärkt in den politischen Diskurs bzw. Alltag einbringen?

Die Wissenschaft hat ihre Rolle in Sachen Klimawandel längst angenommen. Dass die Argumente der Wissenschaft auch Gehör finden, ist nun Sache der Gesellschaft als Ganzes. "Fridays for Future" ist da ein sehr starkes Signal. Jeder Politiker weiß, dass das seine künftigen Wähler sind.

 

Welche Fragestellungen der Physik begeistert Sie heute am meisten?

Eine tolle Story ist die Entdeckung der Quasikristalle, (Nobelpreis für Chemie 2011), eine neue Form von Materie, atomar wohlgeordnet, jedoch ohne Translationssymmetrie. Wegen dieser überraschenden Eigenschaft musste die in Stein gemeißelte Definition, was ein Kristall ist, umgeschrieben werden. Zunächst waren nur künstlich erzeugte Quasikristalle bekannt, häufig mit kristallografisch "verbotener" fünfzähliger Symmetrie, bis schließlich auch in der Natur ein quasikristallines Mineral, Ikosaedrit, entdeckt wurde. Heute weiß man, dass es extraterrestrischen Ursprungs ist. Die spannende Entdeckungsgeschichte ist beschrieben in Paul J. Steinhardt, The Second Kind of Impossible. Mein Physik-Krimi des Jahres 2019.

 

Was möchten Sie dem wissenschaftlichen Nachwuchs mitgeben?

Das wichtigste ist die Lust auf die Geheimnisse der Natur.